Imea

Es ist schon lange her, aber ihr kam es vor wie gestern. Es war die schönste Zeit ihres Lebens und Imea dachte immer gerne wieder daran zurück, auch wenn ihr dabei die Tränen runterliefen.
Denn diese Zeit ... aber dazu später mehr.

Es war ein warmer Tag, als Imea auf ihrer Lieblingslichtung saß und die Vögel beim Fliegen beobachtete. In Gedanken folgte sie ihnen und stellte sich vor, wie sie selber durch die Lüfte gleitet. Diese Freiheit zu genießen, alle Sorgen auf der Erde zurücklassen zu können. Sehr oft träumte sie so vor sich hin, warum sie im Dorf auch Träumerin genannt wurde. Das Licht spielte mit den Bäumen und sie war weit weit weg in ihren Gedanken. Ein Geräusch ließ Imea aus ihren Träumen aufwachen und sie suchte die Baumkronen ab, wo dieses Geräusch wohl herkommen mag. Sie musste die Augen zusammen kneifen, um etwas zu erkennen, so tief stand die Sonne mittlerweile schon. Doch sie konnte etwas in dem Baum vor sich erkennen. Es sah aus wie ein Schatten, der sich über den Baumgipfeln bewegte.
Als sie ihn fast erkannte, war der Schatten plötzlich verschwunden, doch das Geräusch konnte sie immer noch vernehmen. Es schien überall um sie herum zu sein, hüllte sie regelrecht ein. Obwohl sie nicht wusste was das für ein Wesen war, hatte sie keine Angst, ihr Herz schlug nur etwas schneller als sonst.
Sie suchte weiter den Himmel ab, doch es war immer noch nichts zu sehen. Dann hörte das Geräusch plötzlich auf. Imea war nun noch aufgeregter und ging die Lichtung entlang, um weiter nach diesem Wesen zu suchen. Doch weit und breit war immer noch nichts zu sehen.
Als sie gerade aufgeben wollte, bemerkte sie einen großen Schatten über sich, der direkt auf sie zusteuerte. Schnell richtete sie ihren Blick Richtung Himmel und sah nur noch wie ein riesiger goldener Adler direkt vor ihren Füßen landete. Geblendet von der Schönheit dieses majestätischen Wesens blieb Imea regungslos stehen. Was würde jetzt passieren, schoss ihr ihr nur kurz durch den Kopf. Aber Angst hatte sie dennoch nicht.
Der Adler ging langsam auf Imea zu und betrachtete die Träumerin, die selber dachte sie wäre in einen ihrer Träume angelangt. Ganz vorsichtig tastete sich Imea an dieses schöne Tier vor. Wie ein Zauber der sie umgab, zog es sie immer näher zu diesem schönen Wesen hin. Ihre Hände wollten es unbedingt berühren, so schön war es. Wie eine Statue saß der Adler stolz vor Imea und ließ sie gewähren. Als ihre Fingerspitzen die ersten Federn berührten durchströmte ein warmes Gefühl ihren ganzen Körper.
Imea spürte in ihrem Herzen, dass er zu ihr gekommen war. Kein Wort brauchte es, es war einfach da. Eine Hand streichelte mittlerweile die goldenen Flügel, während die andere sein stolzes Haupt berührte. Wachsam aber mit einem Frieden in sich, ließ der Adler es zu.
Ganz warm war er, als sie sich an ihn anschmiegte. Und sein Herz schlug kräftig und ruhig, jeden Schlag nahm Imea in sich auf. Die Zeit schien in diesem Moment stehen zu bleiben. Frieden und Wärme erfüllten Imeas Herz. Es war schon etwas schummrig und Imea musste ins Dorf zurück, doch sie konnte sich nicht von ihm trennen. So schön war er. So warm war er. So friedlich war er. Der Adler bemerkte Imeas Unruhe und spannte seine Flügel. Mit kräftigen Flügelschlägen erhob sich der König der Lüfte, blickte Imea noch einmal in die Augen und flog davon. Mit Tränen in den Augen sah Imea ihrem Schatz noch hinterher, bis er endgültig am Horizont verschwunden war. Samoru, komm bitte wieder, sagte sie nur noch leise zu sich.
Ja, Samuro, so nannte ihr Herz ihn. Samuro, der sie aufgesucht hatte, obwohl sie ihn nie gerufen hatte.

Die Nacht konnte Imea nicht schlafen, sie musste die ganze Zeit nur an Samoru denken. Der Schlaf aber suchte sie doch irgendwann auf und in ihren Träumen traf sie ihn wieder. Am nächsten Tag sollte Imea zum Nachbardorf gehen, wie sie es immer tat. Heute aber führte sie ihr Herz zurück zur Lichtung, mit viel Hoffnung angefüllt, ihn wiederzusehen.
Imea setzte sich auf den gleichen Fleck Erde, auf dem sie am Vortag saß und ihre Blicke wanderten über die Baumgipfel bis zum Horizont, auf der Suche nach ihm. Bei jedem Punkt am Himmel, schlug ihr Herz schneller und mit jeder Minute des Wartens wuchs ihre Sehnsucht.
Als Imea schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, tauchte ein großer Schatten über ihr auf und wie von Zauberhand stand er endlich vor ihr, als wäre er nie weg gewesen. Voller Glück nahm sie ihren Samoru in den Arm.klammerte sich fest an ihn, als würde sie ihm sagen wollen, sie nie wieder alleine zu lassen, nie wieder weg zu fliegen, ewig bei ihr zu bleiben. Samoru legte einen Flügel um Imea und drückte sie fest an sich. Es war ein Bild der Harmonie.
Nach einer Ewigkeit löste sich Samoru von Imea und deutete auf seinen Rücken. Imea verstand und kletterte auf Samorus Rücken. Mit aller Kraft klammerte sich Imea an ihm fest und Samoru breitete seine Flügel aus, die in der Sonne gold schimmerten. Mit kräftigen Schlägen erhob er sich zusammen mit Imea in die Lüfte. Imea sah noch einmal zu ihrer Lichtung hinunter, von hier oben sah alles so klein aus. Nie hätte Imea geglaubt, wie ein Vogel in ihren Träumen zu fliegen. Voller Glück war sie, entrückt in ihre eigene Welt.
Tag für Tag erlebte Imea ihre Träume nun. Samoru flog mit ihr über das ganze Land, besuchte mit ihr Orte, die sich selbst in ihren Träumen nie gezeigt hatten. Ihr Herz war offen, offen für seine Wärme, die unerschöpflich schien. In Imea wuchs das Wesen eines Adlers, aus Samoru wuchs das Wesen eines Menschen. Zwei Welten bildeten eine neue, eine eigene. Eine Welt, in der sich beide genug waren, die Gefühle gestillt wurden, das Glück sich verdoppelte, das Leid geteilt war. Eine Welt voller Harmonie und Liebe ...

Ein Jahr war ins Land gegangen und Imea gehörte zu Samoru, wie Samoru zu Imea. Alle Wesen kannten es so, als wäre es schon ewig so gewesen. Und auch die beiden erinnerten sich an keine Zeit, wo Imea noch die Träumerin und Samoru der König der Lüfte war.
An einem schönen Tag war Imea wieder auf ihrer Lichtung und wartete auf ihren Samuro. Wo sie wohl heute hinfliegen werden, dachte Imea für sich. Doch heute wartete sie vergebens, denn Samuro erschien nicht. Es war nicht das erste mal, dass er nicht zu ihr gekommen war, aber heute hatte sie ein anderes Gefühl dabei. Ein Unbehagen machte sich in ihrem Herzen breit.
Am nächsten Tag war es jedoch wieder vergessen und sie wartete wieder an ihrem Platz. Und endlich sah sie ihm am Himmel und jeder Zweifel war vergessen. Samuro zog wie so oft seine Kreise über der Lichtung, während sie ihn unten sehnsüchtig erwartete. Doch heute landete er nicht bei ihr und flog wieder Richtung Horizont. Traurig blieb Imea in der Lichtung zurück. In der Hoffnung, dass er am nächsten Tag wieder zu ihr kommen würde.
Wieder wartete sie und das Unbehagen in ihrer Brust wurde stärker. Zweifel, Trauer und sogar Wut krochen in Imea hoch. Dann sah sie ihren Samuro wieder über der Lichtung und als er neben ihr landete, war alles wieder vergessen. All die schlechten Gefühle waren wieder fort und ihr Herz wurde wieder warm. Aber der Zauber war nicht mehr der aus vergangenen Tagen. Bei jedem Abschied war nun auch Angst bei ihr, ein Gefühl dass es vorher nie gab. Die Angst ihn zu verlieren.

Jedes neue Warten zerrte an Imeas Herz und mit jedem Tag wurde das Warten länger. Die Unbeschwertheit hatte Imea verlassen. Misstrauen in dem Glück trübten die schönen Momente mit ihrem Samuro.
Doch Imea saß jeden Tag auf ihrer Lichtung, das Träumen hatte sie längst aufgehört, einzig ihr Herz sehnte sich nach Samuro und ihre Augen suchten immer wieder den Horizont nach ihm ab. In jedem Adler sah sie ihn, gequält von ihrer Sehnsucht nach vergangenen Glück.

Es kam der Tag, an dem Samuro nicht mehr wiederkehrte und Imea in ihrem Schmerz alleine war. Warum hat er mich zurückgelassen, warum kehrt er nicht zu mir zurück. Fragen die sie jedes mal quälten und deren Antwort sie nie fand.
Wie so oft, saß Imea wieder auf der Lichtung und suchte den Horizont nach dem Adler ab, als ein Schatten aus dem Wald trat. Imea bemerkte ihn zunächst nicht, ihre Augen waren wie am Horizont gefesselt. Der Schatten kam näher und legte sich in die Nähe von Imea und es zeigte sich, dass es ein geschmeidiger Panther war. Nach einer ganzen Weile lächelte sie ihn schüchtern an, als es ihre Sehnsucht es zuließ ihre Augen vom Horizont zu lösen. Ohne Worte kam der Panther näher und legte sich zu Imea. Als würde er ihr sagen wollen, ihn zu berühren, nahm Imea ihre Hand und legte sie auf sein weiches Fell. Diese Wärme, dachte sie nur kurz. Doch ihre Gedanken waren weiter auf den Horizont gerichtet.
Fast jeden Tag erschien der Panther und suchte Imeas Nähe auf. Sie spürte seine Wärme und genoss sein warmes weiches Fell. Und auch seinen Namen hatte sie ihm längst gegeben. Ameo war jetzt jemand, der an ihrer Seite war, sie fühlte sich nicht mehr so alleine. Doch ihr Herz trauerte weiter.
Nach vielen vielen Tagen sah sie ihren Samuro noch einmal über der Lichtung kreisen, doch er sah nur für einen kurzen Augenblick auf sie hinunter und flog in den Sonnenuntergang. Es war das letzte mal, das Imea ihn sah. Tag für Tag saß sie zusammen mit Ameo auf der Lichtung, den Blick immer wieder auf den Horizont. Die Traurigkeit und der Schmerz hatten ihr Herz schwer gemacht, egal wieviel Wärme Ameo ihr auch gab und geben wollte. Er spürte ihren Schmerz, war einfach nur für sie da. Den Blick immer auf den Horizont gerichtet versank Imea immer weiter in ihrem Schmerz. Sie lachte kaum noch, träumen tat sie schon lange nicht mehr. Nur die Sehnsucht, die weit hinter dem Horizont reichte, ließen sie immer wieder zur Lichtung gehen. Dieser Ort hatte diesen Zauber längst verloren, er bestand nur noch aus Tränen. Nur in den wenigen Momenten mit Ameo konnte sie ihren Schmerz fast vergessen. Seine Gesten vernahm sie zwar, wenn er sie zärtlich in seine Arme nahm, doch ihr Herz verstand sie längst nicht mehr.

Zu groß war die Sehnsucht nach dieser Welt, die sie einst geteilt hatten, aber mit Samuro verschwand auch diese Welt. Das Einzige was ihr noch blieb, war die Erinnerung daran und ihr sehnsüchtiger Blick auf den Horizont. Und mit der Erinnerung war der Schmerz. Nur die Wärme von Ameo, die ihr Leid etwas minderten, war ihr nun geblieben. Und es kam der Tag, da schaute Imea wie so oft auf den Horizont, ihre Gedanken bei ihrem Samuro und als sie den Blick wieder Richtung Erde richtete war auch Ameo nicht mehr da.

Nichts war ihr mehr geblieben, alleine saß sie nun da, auf ihrer Lichtung und es war nichts mehr so wie es mal war. Die Träume waren verloren, die Sehnsucht nach vergangenen Zeiten hatten ihren Platz eingenommen. Imea war nicht mehr die Träumerin, sie war nicht mehr ein Adler, aber als Mensch fühlte sie sich auch nicht mehr. Imea war alleine, das fühlte sie jetzt.